Die vielen Gesichter der Dortmunder Nordstadt
Ein Portrait
von Christian Spies (Text) und Robert Szkudlarek (Foto)
Die Hausfassaden wirken trist, die Gardinen an den Fenstern sind zugezogen. Was sich hinter den Vorhängen abspielt, lässt sich für Passanten nur erahnen. „Matratzenlager“ – so werden die Wohnungen, die rund um die Mallinckrodtstraße zu finden sind, oft genannt. Auf engstem Raum leben dort zahlreiche Menschen.
Kameras unerwünscht
An diesem lauen Tag im Mai lungern viele der Bewohner an der Straße herum. Sie lehnen sich an Hauswände, treffen sich vor den Kiosken und Internet-Cafés, von denen es am Nordmarkt zahlreiche gibt. Misstrauisch beobachten sie vorbeigehende Passanten. Als ein Vater mit ein paar Kindern die Kamera sieht, fragt er in gebrochenem Deutsch: „Kommen Sie von der Zeitung?“ Ein zustimmendes Nicken reicht – „kein Foto, kein Foto“, sagt er und biegt rasch um die nächste Straßenecke.
Kameras unerwünscht – das wird hier schnell spürbar. Die Leute tuscheln, Autofahrer werden beim Vorbeifahren langsamer, man spürt die Blicke hinter den getönten Scheiben. Auf den Parkbänken am Nordmarkt sitzen Biertrinker. Aus einer Einfahrt stolpert ein Mann, guckt sich hastig um und lässt ein kleines Plastiktütchen in seiner Hosentasche verschwinden. Trotz des guten Wetters trägt er eine dicke Jacke, die Kapuze hat er sich tief ins Gesicht gezogen. Mit Journalisten will hier kaum einer reden. Ladenbesitzer winken ab – „lieber kein Interview“. Viele sind das Thema „Brennpunkt Nordstadt“ Leid.
Unterricht im Brennpunkt
Mitten in diesem Brennpunkt befindet sich die Nordmarkt-Grundschule. Schulleiterin Alma Tamborini stößt bei ihrer Arbeit auf zahlreiche Herausforderungen. Die Schülerzahlen wachsen rasant: Alleine in diesem Schuljahr kamen fast 100 Kinder mehr dazu als im Vorjahr. Mehr als 400 Jungen und Mädchen aus 32 verschiedenen Nationen besuchen die Nordmarkt-Grundschule. Die meisten von ihnen sprechen nur schlecht Deutsch. Lediglich 30 Prozent der Schüler sind in der Bundesrepublik geboren. „Unsere Arbeit hier geht über den klassischen Lehrerberuf hinaus“, erklärt Tamborini.
„Wir sind gleichzeitig auch noch Erzieher und Sozialarbeiter.“ Die Lehrer machen Hausbesuche, für Schüler stehen kostenlos Schulranzen zur Verfügung. „Hier ist immer etwas los, es wird nie langweilig.“ Und genau das macht den Job an der Schule für die 35-Jährige so reizvoll. „Wenn man einmal hier ist, will man nicht mehr weg“, betont sie. Gemeinsam mit dem Kollegium und den ehrenamtlichen Kräften hat sie bereits mehrere Projekte initiiert. Für die Vorschulkinder gibt es beispielsweise eine eigene Gruppe. Dort lernen sie Deutsch und die Regeln des Schulalltags. „Eine Art eigener Kindergarten in der Schule“, erklärt Tamborini. Dass das Viertel eine No-Go-Area sei, verneint sie entschieden. Sie sagt aber auch: „Hier ist kein guter Ort zum Aufwachsen.“
Die Polizei zeigt Präsenz
Immer wieder ist der Stadtteil in den Schlagzeilen. Anfang Februar wurden unweit des Nordmarktes zwei Zivilpolizisten verprügelt. Mitte Oktober eskalierte ein Routineeinsatz an der Mallinckrodtstraße, als plötzlich eine Gruppe von knapp 100 Personen auf eine Streife losging.
Die Polizei zeigt inzwischen verstärkt Präsenz. Häufig finden Razzien statt. Zuletzt am vergangenen Dienstag, als Beamte der Stadtwache Nord mit Unterstützung von Einsatzhundertschaften Kontrollen in der Nordstadt durchführten. „Multiproblemviertel“, so nennt die Polizei diesen Stadtteil. Aber eine No-Go-Area, also ein rechtsfreier Raum, sei die Gegend im Norden Dortmunds nicht.
Treffpunkt für Studenten
Und die Nordstadt hat viele Gesichter. Das wird rund um den Borsigplatz und am Hafen sichtbar. Hier treffen sich vermehrt Hipster, Studenten und Kunstinteressierte. Riesige Graffiti in leuchtenden, bunten Farben schmücken die Wände. Die überdimensionalen Motive glänzen im Sonnenlicht. In den Seitenstraßen blühen Pflanzen in prächtigen Vorgärten. An einer Straßenecke lässt ein Kirschblütenbaum seine rosafarbenen Blätter fallen. Die Szenerie wirkt fast schon idyllisch. Dass dies ein Problemviertel sein soll, ist in solchen Momenten kaum vorstellbar.
Im Hoesch-Park spielen Jugendliche Fußball, Familien gehen spazieren. Omnipräsent: der BVB. In der Nordstadt wurde er vor mehr als 100 Jahren gegründet, trug auf dem Spielplatz Weiße Wiese seine ersten Spiele aus. An vielen Ecken wehen schwarz-gelbe Fahnen.
„Nordstadt ist eben nicht gleich Nordstadt“, sagt Annette Kritzler, die Führungen durch das Viertel anbietet. Seit 1988 lebt sie am Borsigplatz. Die Kulturexpertin kennt die Probleme des Viertels, aber auch die Qualitäten. Sie betont: „Die Nordstadt ist keine No-Go-Area“. Negative Erfahrungen habe sie hier in knapp 30 Jahren noch nicht gemacht.
Nachdem sie hergezogen war, merkte sie jedoch schnell, wie ihre Mitmenschen das Viertel im Norden Dortmunds wahrnehmen. „Als ich erzählt habe, dass ich in der Nordstadt wohne, war ich gebrandmarkt.“ Besonders bei Studenten sei das Viertel inzwischen aber beliebt. „Viele ziehen her und merken schnell, wie schön es hier ist“, berichtet Kritzler. Ihr ist anzumerken, wie sehr ihr das Viertel und seine Anwohner am Herzen liegen.
Kreuzberg ist weit entfernt
Zwei Wochen später: An diesem schwülen Vorsommer-Abend ist die Luft in der Nordstadt wie elektrisiert. Die letzten Strahlen der Sonne verschwinden hinter den Häuserdächern. Mit einem kurzen Flackern springen die Laternen an. Rund um den Nordmarkt tummeln sich die Menschen – meist junge Männer. Sie lachen, rauchen, unterhalten sich. Aus einem Fenster krächzt ein Radio.
Vor dem Grünen Salon, einer Kneipe am Nordmarkt, sind alle Tische belegt. Die meisten der Gäste sind jung. Überwiegend Studenten trinken hier Bier, Rotwein oder Espresso. Einen Moment lang hat man das Gefühl, mitten in Kreuzberg zu stehen, diesem hippen, aufstrebenden Stadtteil Berlins. Ob sich die Nordstadt einmal zu solch einem Viertel entwickeln wird? Der Anblick eines Junkies, der zugedröhnt ein paar Meter weiter unter einem Baum liegt, holt einen schnell zurück in die Realität.
Oft wird vor der Nordstadt gewarnt, besonders nach Anbruch der Dunkelheit. Dann soll hier „die Post abgehen“ – im negativen Sinn. Und tatsächlich ist es geschäftiger als noch bei Tageslicht – besonders an der Mallinckrodtstraße. Wieder sind es vorwiegend junge Männer, die sich in Gruppen zusammenfinden, wie aufgereiht auf den Bürgersteigen stehen.
Einer löst sich aus einer solchen Ansammlung. „Ej“, ruft er. Plötzlich scheint die Stimmung umzuschlagen. Die Situation wirkt bedrohlich. Langsam nähert sich der Mann in Adidas-Trainingsjacke, seine Kumpels folgen ihm. Dann deutet er langsam auf die Kamera. Was folgt, passt so gar nicht zu diesem Gefühl von Bedrohung. „Kannst du ein Foto von uns machen?“, fragt er. Sein etwas grimmiger Blick verwandelt sich in ein breites Grinsen. „Für uns?“, schiebt er hinterher.
Dann löst sich ein Junge aus seinem Schatten und diktiert seine E-Mail-Adresse. „Kannst du mir das Bild nachher schicken?“, fragt er freundlich und stellt sich schnell in die Reihe mit den anderen.
Ein besonderer Stadtteil
Das Erlebnis wirkt symptomatisch. Symptomatisch für einen Stadtteil, den Außenstehende mit einem mulmigen Gefühl betreten. Auf den ersten Blick zeigt die Nordstadt häufig ihre hässliche Fratze – Dealer, Trinker und immer wieder Polizeieinsätze.
Meist muss man genauer hinschauen, um einen Blick hinter die Kulissen zu erhaschen. Denn die Nordstadt hat nicht nur ihr hässliches Gesicht. Sie besitzt unzählbar viele weitere Gesichter, die diesen besonderen Stadtteil ausmachen.
Die Nordstadt im Herzen
Menschen des Viertels
Alma Tamborini (35) ist seit eineinhalb Jahren Schulleiterin der Nordmarkt-Grundschule. Seit mehr als zehn Jahren unterrichtet sie in der Nordstadt, seit fünf Jahren an der Grundschule direkt am Nordmarkt. Viel Zeit für Freizeitaktivitäten hat sie neben der Arbeit kaum. Stolz berichtet sie von den zahlreichen Projekten, die an der Schule organisiert wurden. Sie fühle sich wohl bei ihrer Arbeit. In der Pause setzt sie sich in das Café am Nordmarkt und beobachtet das Treiben. „Da wird es nie langweilig“, erzählt sie etwas sarkastisch mit Blick auf die Drogen- und Trinkerszene. Die Pädagogin leugnet die Herausforderungen ihrer Arbeit nicht. Ganz im Gegenteil: Offen spricht sie über die besonderen Aufgaben vor Ort. Damit sich an der Situation etwas ändert, müsse mehr Vorschularbeit geleistet werden – unter anderem sollten die Sprache und die Regeln des Alltags verstärkt gelehrt werden, betont Tamborini.
Annette Kritzler (49) ist gebürtige Dortmunderin und zog 1988 an den Borsigplatz. Im Viertel ist die Frau mit den kurzen Haaren bekannt. Die studierte Geografin kämpft seit vielen Jahren gegen das schlechte Image der Nordstadt. Auf die Frage, ob sie sich in der Nacht vor die Tür traue, lacht sie kurz und sagt: „Wie soll ich denn sonst nach Hause kommen. Ich habe kein Auto.“ Kritzler ärgert sich über die Leute, die „immer nur meckern“. Diese sollten sich ihrer Ansicht nach lieber vor Ort engagieren. Sie selbst ist unter anderem Vorsitzende der KulturMeileNordstadt. Für eine Lösung der Probleme im Viertel sieht die 49-Jährige nicht nur die Politik in der Pflicht. „Es braucht auch eine intakte Nachbarschaft.“ Man müsse aufeinander zugehen. Dies sei besonders wichtig.
Josua Laslo (39) arbeitet als Jugendpastor bei der Evangelisch Freikirchlichen Gemeinde in der Nordstadt. Noch vor einigen Jahren habe diese kurz vor ihrer Auflösung gestanden. Was folgte, kann zweifelsohne als rasante Entwicklung bezeichnet werden: Für zwei Millionen Euro wurde die Kirche umfangreich umgebaut. Die Mitgliederzahlen entwickelten sich auf einmal wieder ins Positive. Inzwischen zählt die Gemeinde mehr als 500 Mitglieder. Im Zuge der Flüchtlingswelle kamen auch mehrere Menschen aus Iran und Afghanistan neu dazu. Sie können den Gottesdienst mithilfe von Kopfhörern auf Farsi verfolgen. Besonders wichtig für Laslo: „Jeder kann zu uns kommen.“ In der Dortmunder Nordstadt fühlt sich der 39-Jährige sehr wohl. Das liege auch daran, dass das Viertel so multikulturell sei, erklärt er. Eine No-Go-Area ist die Nordstadt seiner Ansicht nach nicht. „Wenn ich Angst vor den Menschen hier hätte, könnte ich sie ja nicht in die Kirche lassen.“
Ansgar Wortmann (49) ist Betriebsleiter bei der Dortmunder Tafel. Die zentrale Ausgabestelle befindet sich an der Osterlandwehr in der Dortmunder Nordstadt. Hier läuft alles zusammen: Auf dem Hinterhof stehen die Kühlwagen, mit denen die Lebensmittel transportiert werden. Betriebsleiter Wortmann berichtet von einem enormen Zulauf an Kunden. Seinen Schätzungen zufolge könnten es bis zu 12 000 Menschen sein, die in ganz Dortmund bei der Tafel ihre Lebensmittel besorgen. Als er vor acht Jahren mit seiner Arbeit anfing, seien es noch ungefähr 9 000 Bezieher gewesen. Die Kundschaft in der Nordstadt unterscheide sich aber nicht von der Kundschaft in den anderen Stadtteilen. Die Tafel spreche „ja überall das gleiche Klientel“ an, erklärt er.
Von Ecke zu Ecke
14 Quadratkilometer, 60.000 Anwohner, 140 Nationalitäten
Die Innenstadt-Nord ist ein riesiges Areal. Das Viertel erstreckt sich über mehr als 14 Quadratkilometer und ist in die Bezirke Hafen, Nordmarkt und Borsigplatz unterteilt. Ungefähr 60 000 Menschen aus mehr als 140 Nationen leben hier. Ein Rundgang zeigt, wie vielseitig die Nordstadt ist.
Der Hafen - Kunst und Feierlaune
Der Nordmarkt - unterwegs im Brennpunkt
Der Borsigplatz - Geburtsstätte des BVB